Das Klimaticket Österreich nutze ich nicht nur, um kleinere Rundreisen zu unternehmen. Manchmal fahre ich für einen Tag hinaus und schaue mir andere Ortschaften an. Dabei setze ich mir bewusst Schwerpunkte, um mich beim Fotografieren darauf konzentrieren zu können. Und so entschied ich mal, an einem Sonntag in Wien die Mariahilfer Straße vom Westbahnhof ins Zentrum zu Fuß zu erkunden. Warum habe ich ausgerechnet die Mariahilfer Straße und speziell diesen Abschnitt gewählt?

Zankapfel Mariahilfer Straße

Keine Straße wurde medial im letzten Jahrzehnt so kontrovers diskutiert wie die Mariahilfer Straße, die sich in Wien zwischen dem 6. und 7 Bezirk vom 15. Bezirk (um den Westbahnhof, Äußere Mariahilfer Straße) bis ins Zentrum zieht. Berichte aus dem Jahr 2013 dokumentierten, wie diese Straße künftig aussehen solle – hier beispielhaft eine Zusammenfassung aus dem Kurier. Ob und wie diese Änderungen durchgeführt wurden, kann jeder für sich feststellen. Es gab nicht nur aus der Politik befürwortende Stimmen für das Projekt. Selbst einige Handelsunternehmen waren für die Umgestaltung der Mariahilfer Straße, wie der Standard aufzeigen konnte. Das Ergebnis: Die Mariahilfer Straße ist die längste Einkaufsstraße Wiens. Dieses Label zieht wiederum diverse, teils kontroverse Entwicklungen und seltsame Glücksritter geradezu magisch an.

Die Probleme abseits der schönen Bilder

Doch wie bei allen Großprojekten in einer Stadt, gibt es auch hier Schattenseiten, die man erwähnen sollte. Es ist von vermehrter Gewalt und erhöhter Obdachlosigkeit die Rede, wie dieser Beitrag der Presse berichtet. Die Leerstandsproblematik geht auch an der längsten Einkaufsstraße Wiens nicht spurlos vorbei, die exemplarisch der Standard und einige andere Zeitungen darüber informieren. Dass der Leerstand allerdings auch entstehen kann, wenn Pacht- und weitere Nebenkosten so hoch sind, dass ein wirtschaftliches Handeln verunmöglicht wird, scheint sich noch nicht bis zu allen sozialen Milieus herumgesprochen zu haben. Würde mir zumindest Gedanken machen, wenn selbst ein Fachportal für Gastronomie (des Wirtschaftsverlags!), darüber schreibt, dass viele Standorte in den Innenstädte zu teuer geworden sind. Und die Folgen der sogenannten Corona-Maßnahmen sind noch längst nicht ausgestanden.

Herausfordernde Effekte – zum Nachteil einer nachhaltigen Standortentwicklung

Anyway, durch die Berichterstattung (und das völlig berechtigte Aufzeigen verschiedenster Probleme) hat die Mariahilfer Straße nicht den allerbesten Ruf. Dieser ist nämlich so kontrovers, dass dieser weitere ungebetene Effekte nach sich zieht. Denn: Selbst die Neugestaltung der Äußeren Mariahilfer Straße wird sehr heiß diskutiert – und der Boulevard greift dies natürlich auf. Wer in diesem Bereich der MaHü schon unterwegs war, weiß, dass es dort nicht allzu schön aussieht und sich dringend etwas ändern muss. Und es wird noch absurder: In persönlichen Diskussionen mit entsprechenden Vertreter:innen diverser Milieus wird die Entwicklung der Mariahilfer Straße sogar als Argument angeführt, um sinnvolle Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in anderen Städten zu verhindern. Um es kurz zu fassen: Die MaHü hat schon länger ein Image-Problem und dieses wirkt sich österreichweit auf andere Projekte aus.

An einem Sonntag in Wien - (c) ausgeglichen unterwegs
Sitzbänke, Bäume und ausreichend Platz, um sich fortzubewegen – so sieht die MaHü an einem Sonntag im Sommer aus (Aufnahme: © ausgeglichen unterwegs, August 2024).

An einem Sonntag in Wien flanieren – ohne Konsumdruck

Na Bumm! Ganz schön viel Negatives über eine Einkaufsmeile, die eigentlich eher positive Vibes überbringen sollte. Meine persönliche Meinung zur MaHü ist dabei weitaus differenzierter: Ja, die aufgezeigten Probleme in den Medien sind vorhanden. Aber hat mal jemand auch ein Auge für das Positive, das dieses Projekt angestoßen hat? Nein? Dann würde ich gerne aus meinen eigenen Eindrücken heraus ein bisschen nachhelfen. Denn ich war schon ein paar Mal auf der MaHü unterwegs und habe sie vor allem als divers und als willkommene Abwechslung zu den innerstädtischen Einkaufs-Hotspots empfunden. Darum wollte ich mal an einem Sonntag in Wien flanieren. Frei von jeglichem Konsumdruck.

Sitzgelegenheit, die genutzt werden

Um einen ersten Mythos zu entkräften: Nein, die Mariahilfer Straße ist nicht vollständig „autofrei“. Sie wurde stattdessen teilweise verkehrsberuhigt. Bspw. durch die Begrenzung der Geschwindigkeit. Oder eben durch andere bauliche Maßnahmen. Es handelt sich somit insgesamt eher um einen öffentlichen Raum, der vielfältige Formen der Mobilität zulässt. Zugleich räumt er vor allem dem Fußverkehr etwas mehr Bewegungsfreiheit ein. Dass Fußgängerinnen und Fußgänger auch mal Plätze zum Rasten brauchen, wurde in der Konzeption offensichtlich mit berücksichtigt. Dass diese nun einmal auch Platz beansprucht, das den anderen Fortbewegungsmitteln fehlt, ist der bis dahin wirksamen Schwerpunktsetzung der städtischen Verkehrspolitik geschuldet. Doch diese Sitzgelegenheiten werden nicht nur von Obdachlosen genutzt, wie medial (gerne suggeriert wird. Sie werden von allen anderen sozialen Milieus ebenso beansprucht.

An einem Sonntag in Wien - Sitzbänke in der MaHü - © ausgeglichen unterwegs
Das Treiben auf der MaHü ist Sonntags ein komplett anderes (Aufnahme: © ausgeglichen unterwegs, August 2024).

Darum sind solche Räume gerade Sonntags interessant

Ich kenne die Struggles: Da will man eigentlich nur ein wenig spazieren und – Zack! – sieht man etwas im Schaufenster, das gut zum eigenen Stil passen würde. So denken bzw. handeln viele Menschen. Ob sie sich es nun leisten können oder nicht, soll hier nicht weiter vertieft werden. Wie praktisch, dass Sonntags der Einzelhandel seine Pforten geschlossen hält. Das gastronomische Angebot ist dennoch geöffnet und (scheinbar) vielfältig. Und für mich macht das enorm viel aus. Denn es drängen sich offensichtliche Fragen auf. Wie verändert sich das Wesen einer Straße, wenn nicht durchgehend der Konsum im Vordergrund steht?

Mehr Sichtbarkeit für andere Themen

Und siehe da: Ja, an diesem Sonntag im August ist sehr viel weniger auf der MaHü los. Die Obdachlosigkeit ist tatsächlich sichtbarer. Und zugleich gehen die konsumfreien Räume nicht so unter. Das heißt für Fußgängerinnen und Fußgänger: Man kann sich auf den Sitzbänken jederzeit ausruhen. Bei der Hitze (32°C) sollte man ohnehin das Trinken nicht vergessen. Und irgendwie fühlt sich das Flanieren auf der Mariahilfer Straße für mich gut an. Die Bäume, die eine Allee bilden, spenden ausreichend Schatten. Die Sitzbänke sind nicht mit der Gastronomie verbunden. Und durch die geschlossenen Geschäfte verspüre ich beim Schauen in den Auslagen so gar keinen Druck, etwas unbedingt kaufen zu müssen. Andere offenbar auch nicht. Denn ich spüre, dass an diesem Tag die Stimmung recht entspannt ist.

An einem Sonntag in Wien – ein Fazit

Der Unterschied in der Nutzung der Straße ist also deutlich sichtbar. Andere Lebensmodelle werden sichtbarer. Und zugleich sieht man an der MaHü exemplarisch, was einen multifunktionalen Raum ausmachen kann. Nicht in Perfektion – aber das gibt es in der Standortentwicklung ohnehin nicht. An einem Erlebnis möchte ich einen weiteren positiven Effekt der Mariahilfer Straße verdeutlichen. Kaum war ich am Ende der MaHü am Museumsquartier angekommen, floss der Schweiß so richtig. Denn da gibt es kaum noch schattige Plätze. Dort ist die Tageshöchsttemperatur so spürbar, dass ich meine Wasserflasche schnell austrinke und mich unverzüglich auf den Weg in die Innenstadt begebe. Allein daran merkt man, dass in der Mariahilfer Straße doch nicht alles falsch gemacht wurde.

An einem Sonntag in Wien - Sitzbänke vor dem MQ - © ausgeglichen unterwegs
Weitaus weniger schattig ist es auf den Sitzbänken vor dem Museumsquartier (Aufnahme: © ausgeglichen unterwegs, August 2024).

Der Unterschied zur Innenstadt

In der Wiener Innenstadt angekommen, bemerke ich den Unterschied. Anstatt Bäume säumen die Wege dort vor allem große Schirmständer der Gastronomen. Es sind deutlich mehr Gastgärten zu sehen. Öffentliche Bänke zur kurzen Rast eher die Seltenheit. Auch die Begrünung des öffentlichen Raums nimmt deutlich ab (die Pflanzen befinden sich in der Innenstadt allerdings auch eher auf den Rooftops). Der Charakter der Innenstadt, konkret in den Einkaufsstraßen, ist ein komplett anderer als der auf der MaHü. Während meines Spaziergangs sehe ich einen Hinweis auf eine Rooftop-Bar. Ich überlege kurz, diese zu besuchen. Und entscheide mich dagegen. Grund: Ich habe keine Lust. Bei meiner Schwäche für Rooftop-Bars soll das was heißen.

Und es gibt sie noch – die innerstädtischen Ruheoasen.

Natürlich würde ich der Wiener Innenstadt Unrecht tun, wenn ich behaupten würde, dass alle öffentlichen Räume nur auf Konsum aus seien. Nein. Es gibt zahlreiche Parks im Zentrum, die Räume zur Erholung bieten. An einem Sonntag in Wien kann man diese ohne weiteres besuchen und viele neue Bekanntschaften schließen. Wer sich ein Buch schnappen und in einem Park lesen will, kann selbstverständlich auch das tun. Doch so richtig reizvoll sind eigentlich die Geschichten, die man in den Wiener Parks hört oder sieht. Der Wiener Alltagspoet fasst diese in wunderbarer, wenn auch verkürzter Form zusammen. Und es sind letztlich genau diese Stories, die mir regelmäßig ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Wien zu einem wunderbaren Ort machen.